Millionen Deutsche werden im kommenden Jahr deutlich mehr für ihre private Krankenversicherung zahlen. Schuld sind Nullzinspolitik und eigene Versäumnisse. Die Branche will mit digitalem Service dagegen halten.
Den Brief von ihrem privaten Krankenversicherer sehen Beamte, Selbständige und Besserverdiener jedes Jahr im November mit gemischten Gefühlen entgegen. In der Regel müssen die knapp neun Millionen dort Versicherten mit steigenden Beiträgen für das darauf folgende Jahr rechnen. Im Schnitt waren das jedes Mal 3,6 Prozent, wie der Branchendienst MAP Report in seiner Langfristbetrachtung für die Jahre 2000 bis 2015 ausgerechnet hat.

In diesem November könnte es allerdings besonders happig werden. Gut zwei Drittel aller Privatversicherten, also gut sechs Millionen Menschen im Land, müssen mit einer Beitragserhöhung von elf Prozent rechnen. Das meldet die „FAZ“ und beruft sich dabei auf eigene Informationen. In der Spitze sei sogar ein Anstieg um ein Viertel denkbar, heißt es dort. Teurer werden dürfte es auch für Mitglieder der gesetzlichen Krankenkasse, die eine Zusatzversicherung abgeschlossen haben. Auch hier dürfte es für gut 2,5 Millionen Mitglieder teurer werden.
Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die gesetzliche Regelung, dass viele Tarife nur dann angehoben werden dürfen, wenn die Kosten um zehn Prozent gestiegen sind. Das ist nun bei einem Großteil der Verträge der Fall.

Nun gab es auch solche Fälle in der Vergangenheit immer mal wieder. Im vergangenen Jahr fiel beispielsweise der Tarif Vital 250 der Axa auf, der für einige Kunden sogar um bis zu 50 Prozent teurer wurde. Das jedoch waren Einzelfälle wie dieser.
Doch gerade der zeigt die Problematik besonders deutlich. Die Axa kalkulierte diesen Tarif auf einer Rechnungsgrundlage von 3,5 Prozent, das war vor wenigen Jahren noch durchaus üblich und keineswegs unrealistisch. Mit diesem Zinssatz sollte das für die Altersrückstellung angesparte Geld verzinst werden. Das ist heute indes kaum noch am Markt zu erwirtschaften, folglich müssen die Kunden nun innerhalb ihres Gesamtbeitrages mehr in die Altersrückstellung einbezahlen.
Das alles ist harte Kost für die Versicherten. Und keine Werbung für die Branche, die seit Jahren schon um Mitglieder kämpfen muss. Denn wechselten im Jahr 2004 noch rund 300.000 Kunden aus der gesetzlichen Krankenkasse in die private, so waren es zehn Jahre später nur noch 115.500. Eine Trendwende ist nicht absehbar.
Beim Verband der privaten Krankenversicherung (PKV) will man zu den Zahlen nichts sagen. Schließlich liegt es an jedem Versicherer selbst, wie er seine Beiträge gestaltet. In der Branche selbst versucht man das Unvermeidliche jedoch erst gar nicht schön zu reden. „Es wird eine ungewöhnlich hohe Beitragsanpassung geben“, heißt es von einem der großen Anbieter.
Schuld ist wie bei allen großen Häusern, bei denen Kapital angesammelt wird, die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Was der Kapitalmarkt nicht mehr hergibt, müssen jetzt die Krankenversicherten zahlen, lautet in diesem Fall die simple Rechnung. Noch schlimmer: Da EZB-Präsident Mario Draghi keinerlei Anzeichen gibt, dass es schon bald eine Zinserhöhung geben wird, könnte sich die Situation zum Dauerproblem auswachsen. Mit heute noch nicht absehbaren Folgen für die Branche und ihre Kunden.
Die Privaten Krankenversicherer versuchen deshalb entgegen zu steuern. Beispielsweise mit einem größeren und veränderten Angebot. Wie in anderen Branchen lautet auch bei den privaten Krankenversicherern das Zauberwort Digitalisierung. Zumal die Branche unumwunden zugibt, dass hier „Nachholbedarf“ hat, wie es Michael Heinz vom Bundesverband deutscher Versicherungskaufleute nennt. Insider drücken es noch härter aus. Viel zu lange hätten die Vertriebler bestimmt, wohin das Geld für Neues zu fließen habe. „Die wollten lieber neue Produkte statt eines besseren Kundenservice“.

Mittlerweile hat die Branche jedoch die Zeichen der Zeit erkannt. Die Digitalisierung gelte es zu nutzen, weil gerade potenzielle Neukunden beispielsweise einen Service per App erwarten. Wer hier führend sei, der werde auch in Zukunft die meisten Abschlüsse erzielen. Für die Branche selbst hat ein Neukunde einen weiteren Vorteil. Er weiß bereits um die Konsequenzen der Nullzinspolitik für seinen Beitrag und ist entsprechend höher eingestiegen. Der Schock der jährlichen Beitragsanpassung dürfte bei ihm deswegen künftig geringer ausfallen als bei den Bestandskunden.
Mehr statt weniger lautet deshalb in der Branche auch die Devise für die Zukunft. Jahrelang waren Billigtarife bei der privaten Krankenversicherung in Mode. Weil dafür auch das Leistungsangebot entsprechend schmal ausfiel, wurde vielen Kunden die Konsequenz erst bewusst, als sie mal schwerer krank wurden und dann einen Gutteil der Kosten selbst tragen mussten.
Doch nicht nur die fehlenden Erträge bei der Geldanlage, sondern auch die immens gestiegenen Kosten nerven die Privaten Krankenversicherer. So sind die Ausgaben für Medikamente in den Jahren von 1994 bis 2014 für jeden Versicherten bei der PKV um 184,5 Prozent gestiegen, bei der Gesetzlichen Krankenversicherung nur um 115,3 Prozent. „Es wäre schön, wenn wir Anwalt der Kunden und Partner der Pharma-Industrie wären“, sagt deswegen Allianz-Chef Oliver Bäte kürzlich in einem Interview. Die medizinischen Kosten in Deutschland seien schließlich viel zu hoch. Hier müsse der Gesetzgeber etwas ändern.

Ein Mittel dafür könnte E-Help sein, also digitale Assistenzsysteme für den Kunden. Damit könnten die Versicherer zwar ihre Kosten nicht dramatisch senken. Solche Systeme wirkten aber nach Aussagen vieler Branchenexperten psychologisch, indem die Kunden besser auf sich achten. Deutschland ist schließlich sowohl beim Thema Übergewicht als auch bei Diabetes mittlerweile weltweit auf Platz drei hinter den USA und Großbritannien angekommen.

Den Brief mit den steigenden Beiträgen im November werden PKV-Kunden damit nicht verhindern können. Langfristig würde es sich indes sehr wohl positiv auf die Beiträge auswirken, wenn alle Mitglieder etwas gesünder leben würden.
Fonte:
Handelsblatt