Die Digitalisierung wirbelt die Versicherungsbranche durcheinander. Fünf Versicherer suchen in Berlin mit Experten aus Wissenschaft, Beratung und Technik nach der Assekuranz der Zukunft. Dabei war man schon mal weiter.
Das Procedere ist seit Ende des Winters alle paar Wochen das gleiche. Fünf Versicherer schicken ein bis zwei Auserwählte nach Berlin. Sind ab Montagmittag alle da, geht es bis zur Abreise am Mittwochnachmittag an die Arbeit. Am Ende der Woche stellen die Emissäre dann die neuen Ideen im eigenen Unternehmen vor, diskutieren und arbeiten die Vorschläge auf die hauseigenen Verhältnisse um.
Der Rahmen ist fix: Fünf Versicherer haben sich im Frühjahr 2017 mit Experten aus Wissenschaft, Beratung und Technik zusammengeschlossen, um das Thema Versicherung von Grund auf neu zu denken. HDI, LVM, Markel, Provinzial Nordwest und die Rheinland Versicherungsgruppe sind dabei. Komplettiert wird die bunte Truppe durch die technische Expertise des Software-Riesen SAP, den Beratern von Ernst & Young Innovalue und der wissenschaftlichen Unterstützung von VERS Leipzig, einer Ausgliederung der dortigen Uni. Zusammen gekommen ist so die „Wilde Dreizehn“, wie man sich selbst nennt. Ein Verbund, wie er noch vor kurzem bei den tendenziell konservativen Versicherern als undenkbar erschien.

Seit aber auch bei den deutschen Versicherern das Bewusstsein gewachsen ist, dass sie sich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen müssen, versuchen sie landauf, landab alles zu tun, um nur ja nicht als rückständig zu gelten. Während andere Branchen wie der Einzelhandel, die Tourismusbranche und selbst die Banken das Thema seit Jahren schon massiv vorantreiben, haben die Versicherer sich diesem lange Zeit nur sehr langsam angenähert. „Dass Versicherer hier nicht früher aktiv wurden, liegt auch am Geschäftsmodell. Ein Versicherer kann heute noch über Jahre sehr gut leben, ohne einen Neuvertrag abzuschließen“, bringt Christian Mylius die besondere Situation der Branche auf den Punkt. Zwangsläufig verleitet die natürlich nicht zu einem proaktiven Handeln.
Das Ziel des sogenannten Insurhub-Kreises hört sich so banal an, dass sich Außenstehende fragen, warum es nicht längst umgesetzt ist: Der Kunde soll bei den Versicherern im Mittelpunkt stehen. Dafür gehen sie im Berliner Insurhub von Anfang an einen anderen Weg. Statt wie bisher Produkte aufzulegen, die besonders den Wünschen der starken Vertriebsabteilungen entsprechen, sollen nun die großen gesellschaftlichen Mega-Trends und ihre Auswirkungen auf den Umgang der Kunden mit Versicherungen im Mittelpunkt stehen. „Die Kunden denken nicht in Wohngebäude- oder Hausratversicherungen, sondern in ihren Erlebniswelten“, beobachtet Fred Wagner, Professor an der Uni Leipzig und Gründer von VERS.

Der erste große Themenkomplex ist der für jedermann bedeutsame Komplex „Wohnen“. Durch den Megatrend Smart Home dürfte sich der in den kommenden Jahren rapide verändern. Bessere Bedienbarkeit, schnellere und effizientere Steuerung sowie deutlich mehr Sicherheit in den eigenen Wänden dürften in diesem Bereich einen so starken Wandel verursachen wie nie zuvor.

In einem ersten Schritt geht es für die Versicherer darum, zu verstehen, was sich durch diesen Mega-Trend überhaupt in der täglichen Lebenswelt der Kunden verändert. Etwa darum, welchen Einfluss die technischen und sensorischen Mehrwerte der intelligenten Haustechnik auf ihn haben. Statt davon abgeschreckt zu sein, sollten die Versicherer das Ganze als Chance begreifen, glaubt man bei der Vernetzungsgruppe. Im nächsten Schritt sollen dann Prozesse und Produktideen entwickelt werden, beispielsweise eine innovative Sachversicherung für die heimischen vier Wände.
Wesentlicher Antrieb ist, dass der Kunde sein Verhalten in den vergangenen Jahren massiv verändert hat. „Der Kunde hat heute von Amazon oder Apple ein ganz anderes Kundenverständnis und erwartet das auch von seinem Versicherer“, beobachtet Florian Dreifus, der SAP-Verantwortliche, beim Blick auf andere Branchen. Dort erleben Kunden zum Teil schon seit Jahren Individualität, Flexibilität und Transparenz.
„Die Versicherer hinken in der Entwicklung von Mehrwerten hinterher“, findet auch Fred Wagner, der Leipziger Professor. Allerdings mit einer gewissen Einschränkung. Rechtliche Restriktionen wie beispielsweise der Datenschutz würden von den Versicherern wie kaum einer anderen Branche vorbildlich beachtet. „Aber das macht es ihnen auch schwerer, zugeschnittene Lösungen anzubieten“, so Wagner.

Umgekehrt haben die Versicherer gerade wegen ihrer vielen Datenquellen auch große Vorteile im Vergleich zu anderen Branchen. „Sie verfügen über viel Know-how in Bezug auf die gezielte Analyse von Daten“, lobt SAP-Experte Dreifus. Gerade in den kommenden Jahren werde dieses Thema an Bedeutung gewinnen.
Kaum einer weiß heute noch, dass es während der ersten Welle der Digitalisierung in den 1970er-Jahren ausgerechnet die Versicherer waren, die die Speerspitze der IT-Revolution darstellten. Erst danach zogen andere Industrien vorbei. Dass es bei den Versicherern aber auch heute anders geht, beweisen Institute aus Skandinavien und aus Asien. Sie sind bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle deutlich weiter.

Damit das auch in Deutschland gelingt, mussten das Insurhub Widerstände in den Köpfen der Teilnehmer überwinden. „Kritisch war es nur am Anfang, als es Vorbehalte gab, nur nicht zu viel aus dem eigenen Haus preiszugeben“, berichtet Uni-Professor Wagner. Doch so denke heute keiner mehr. Stattdessen gelte die Devise, dass alles, was im Lab produziert werde, auch allen gehöre. Ohnehin könne er sich Digitalisierung ohne Kooperationen nicht vorstellen.
Noch bis Ende Oktober soll das Projekt laufen, eine Fortsetzung in anderer Form ist denkbar. Einige Anfragen anderer Häuser, die gerne auch dabei wären, gibt es bereits. „Intern läuft gerade die Diskussion, wie wir damit umgehen“, erzählt Berater Christian Mylius. Einerseits müsse man vorsichtig sein, um die Dynamik im Lab zu erhalten, andererseits sollte es aber auch möglich sein, den einen oder anderen Teilnehmer noch aufzunehmen. Frische Impulse seien schließlich immer gefragt.
Fonte:
Handelsblatt