Gute Zahlen sprechen für sich selbst. So dachte man beim Sparkassenversicherer Provinzial Nordwest in Münster. Doch das reicht nicht, wenn man zuvor durch einige Aktionen von Akteuren aus dem Unternehmen und außerhalb für bundesweites Aufsehen gesorgt hat.

Es sind in den vergangenen zwölf Monaten viele Fragen offen geblieben: Das beginnt mit dem Verhältnis zum Branchenprimus Allianz, führt über aufsehenerregende Aktionen von Aufsichtsratsmitgliedern der Gesellschaft bis hin zum Verhalten des Vorstandschefs Ulrich Rüther selbst.

Eine Fusion mit der Schwestergesellschaft Provinzial Rheinland aus Düsseldorf steht im Raum. Doch dafür interessierten sich die rund 50 Besucher der Bilanzpressekonferenz in Münster gar nicht so sehr. Auch die Allianz war kein Thema. Sie fragten stattdessen mehrmals ganz zurückhaltend nach den Auswirkungen, die das spektakuläre Verhalten von Ulrich Rüther wohl auf das Unternehmen hat. Und bekamen keine oder nur schwache Antworten.

Die Regisseure der Pressekonferenz waren offenbar auf Fragen zur Selbstverletzung von Rüther eingestellt. Ihre Strategie: Dies ist eine persönliche Angelegenheit von Ulrich Rüther und hat mit der Bilanz der Provinzial Nordwest nichts zu tun. Dies ging jedoch nicht wie erhofft auf.

Ob er denn Druck wegen der Aktion im vergangenen Jahr verspüre, lautete die erste Frage zum Thema. Er fühle sich da nicht unter Druck, antwortete Rüther nur, ansonsten wolle er dazu nicht weiter Stellung nehmen. Nicht über sich selbst, nur über die Zahlen wolle er reden.

Klar, denn die Bilanz war im vergangenen Jahr ausgezeichnet. Mit einem Jahresüberschuss nach Steuern in Höhe von 136,2 Millionen Euro lag der zweitgrößte öffentliche Versicherer deutlich über dem bereits hohen Vorjahresniveau von 116,2 Millionen Euro. Und das, obwohl der Umsatz in der wichtigen Sparte Lebensversicherung gesunken war. Drei Milliarden Euro an Prämien sammelte der Versicherer ein.

Im Vergleich zu 2010 hat Rüther den Gewinn fast verdoppelt, damals standen unter dem Strich knapp 75 Millionen Euro. Er legte das höchste Ergebnis vor, seit der Konzern in seiner aktuellen Form im Jahr 2005 gegründet worden ist. Rüther stärkte das Eigenkapital kräftig und sitzt nun auf 1,266 Milliarden Euro Substanz. Zum Vergleich: 2005 waren es nur 764 Millionen Euro.

Im Schnitt steckte das Management pro Jahr 60 bis 70 Millionen ins Eigenkapital, das ein Versicherer unbedingt braucht, um zu wachsen. Vergleicht man Ergebnis und Eigenkapital, so ergibt sich eine Verzinsung von mehr als zehn Prozent. „Gar nicht so schlecht“, kommentierte Rüther dies „westfälisch bescheiden“.

Die Fragesteller in Münster ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken. Sie hakten bei dem Thema nach, das so viele Fragen aufgeworfen hat. Der Aufsichtsrat der Gesellschaft habe sich nur vorsichtig hinter ihn gestellt, lautete eine Feststellung. Wie lange denn sein Vertrag noch laufe?

Rüther verlässt für einen Moment seine Linie: „Da habe ich eine andere Wahrnehmung“, sagt er. Und wird dann plötzlich vage, so als ob er nicht wisse, wie lange denn sein Vertrag läuft. Dieses Jahr stehe keine Vertragsverlängerung an, sagt er und lässt damit die zweite Frage ebenfalls unbeantwortet. Doch der dritte Versuch folgte sogleich. Mit Blick auf seine Selbstverletzung und die versuchte Täuschung stelle sich die Frage, wie hoch denn noch das Vertrauen der Belegschaft sei? Rüther blockt dieses Mal sofort ab: „Dazu möchte ich heute keine Antwort geben.“ Dies sei eine Pressekonferenz der Provinzial.

Während er dies sagt, verstärkt sich seine Gesichtsröte. Ob seine innere Anspannung steigt? Schwer zu sagen, denn gleichzeitig versucht er, innere Ruhe zu demonstrieren. Die Hände faltet er nun mehrmals in Betstellung. Seine Uhr nimmt er ab und legt sie sorgfältig vor sich hin. Und wartet auf die nächste Frage.

Die kommt nun zu den Fusionsabsichten mit der Schwestergesellschaft Provinzial Rheinland. Das Thema liegt bei den Eigentümern. Verschiedene Sparkassen- und Landschaftsverbände müssen gemeinsam eine Entscheidung treffen. Rüther mag daher darüber wenig sagen – im Gegensatz zu seinen Düsseldorfer Kollegen, die sich auf ihrer Bilanzpressekonferenz ausgesprochen ausführlich äußerten. Grundsätzlich ist eine Fusion aus seiner Sicht sinnvoll, weil man damit Kosten sparen könne. Das heiße aber auch, dass der neue, größere Konzern an vielen Stellen auch schlanker werden muss. Andererseits: Wenn es nicht zu einer Fusion komme, sei die Provinzial Nordwest „auch alleine stark genug“, hält er fest. „Wir machen das, wenn es sinnvoll ist.“

Genau das ist die Frage: Ist es sinnvoll? Wenn man etwa auf den Gewinn des Konzerns und die Kostenentwicklung in der Schaden- und Unfallsparte schaut, kommt der Eindruck auf: Auch alleine läuft es bestens in dieser Versicherungsgesellschaft. Rüther hat hier durch striktes Kostenmanagement hervorragende Zahlen vorgelegt, die deutlich über dem Schnitt der Branche liegen.

Gemessen wird der Erfolg in Schaden- und Unfallversicherung gemeinhin am Verhältnis von Prämien einerseits sowie Kosten und Schäden anderseits. Die Experten formulieren daraus eine kombinierte Quote, die Combined Ratio. Wenn diese unter 100 Prozent ist, verdient der Versicherer im reinen Versicherungsgeschäft Geld. Und das gilt als Erfolg.

Im Schnitt der Branche liegen die Schaden- und Unfallversicherer bei 97 Prozent. Was ganz ordentlich ist, doch längst nicht an die Zahl der Münsteraner herankommt. Diese erreichten 2012 eine Quote von 90,3 Prozent. Das ist fantastisch, zumal diese Zahl in den letzten Jahren noch stetig gesunken ist. 2010 lag sie bei 94,7 Prozent.

Allein dies zeigt: Rüther ist offenbar ein hervorragender Versicherungsmanager, der die Zeichen der Zeit erkannt hat. Nur wer als Versicherer rechtzeitig die Kosten senkt, hat im zunehmend schwieriger werdenden Umfeld für alle Versicherer eine gute Chance, auch künftig erfolgreich zu sein. So glauben es jedenfalls viele Experten. Und Rüther lässt keinen Zweifel: Auch künftig will er Kosten senken. Was auch bedeutet, dass Stellen wegfallen – allerdings sozialverträglich, wie er betont.

Während Rüther über Fusionen und Zahlen redet, nimmt seine Gesichtsröte wieder etwas ab. Er wird lebhafter, macht sogar einen Witz. Er weiß, in dem Saal sind mehrere Kameras auf ihn gerichtet. Locker zu bleiben, ist wichtig, zumal der vierte Versuch zum Thema Selbstverletzung nicht auf sich warten lässt.

Wie sehr denn seine Aktion das Image des Konzerns geschädigt habe? So lautet die geschickt gestellte Frage, die er beantworten muss, weil es nicht allein um seine Person geht. Das könne er nicht messen, reagiert Rüther. Er sehe keine Auswirkungen, aber diese Frage solle man doch lieber im nächsten Jahr wieder stellen, sagt er und trinkt einen Schluck Wasser.

Die Pressekonferenz neigt sich dem Ende zu. Die Lebensversicherungen werden noch einmal zum Thema. Schließlich kursiert im Sparkassensektor die Frage, ob denn einzelne Lebensversicherungen geschlossen werden sollen und vielleicht ein einziger Lebensversicherer für die Sparkassenversicherer neu gegründet werden sollte. Die Experten sprechen von Abwicklung oder Run-Off. Rüther sagt zu den Ideen, hinter denen auch Aufsichtsräte seiner Gesellschaft vermutet werden: „Wir prüfen keinen Run-Off eines Lebensversicherers. Wir stehen zur Lebensversicherung.“ Und dann rutscht ihm dieser Vergleich zur Aufgabe des Geschäftes mit Lebensversicherungen heraus: „Das wäre ja Selbstmord aus Angst vor dem Tode.“

Nein, seine Selbstverletzung ist nun kein Thema mehr. Rüther nutzt den Schluss dieses öffentlichen Spießrutenlaufes statt dessen, um zu zeigen, dass er noch fest im Sattel sitzt. Die Anteilseigner seien erkennbar hoch zufrieden mit dem Jahresabschluss gewesen. Nach rund einer Stunde mit Fragen und Antworten lädt er um 12.20 Uhr zum Imbiss. Er zieht sich seine Uhr wieder an und fährt sich einmal durch die Haare. Seine Vorstandskollegen kommen auf ihn, er lacht.

Nun hoffen sie in Münster kollektiv, dass damit das Thema Rüther öffentlich erledigt ist. Kann sein, wenn es zu keiner Fusion zwischen den beiden Provinzial-Gesellschaften kommt. Doch wird das auch so sein, wenn sich die Frage stellt: Wer führt das neue, größere Unternehmen? Der Chef der größeren Gesellschaft hat da gemeinhin bessere Chancen. Also Rüther.