Markus Rieß kennt das deutsche Versicherungsgeschäft der Allianz inzwischen wie seine Westentasche. Seit mehr als sechs Jahren sitzt er im Vorstand des deutschen Konzernteils, der Allianz Deutschland AG. Seit Mitte 2010 führt er die wichtigste Versicherung im Allianz-Konzern. Sein Arbeitspensum gilt im Unternehmen als legendär, seine Auffassungsgabe wird gerühmt.

Das Wichtigste aber ist: Rieß ist noch unter 50 Jahre alt und hat daher eine Chance, ganz nach oben, an die Spitze des weltweit tätigen Versicherungskonzerns zu rücken. Seinem Karriere-Ziel könnte Rieß schon bald näher kommen. Denn die Allianz plant die Nachfolge des Vorstandsvorsitzenden Michael Diekmann. Dies jedenfalls legt ein Bericht des „Manager Magazin“ nahe.

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg nach oben könnte sein, dass Rieß in den Holding-Vorstand berufen wird. Dies ist das oberste Führungsgremium der Versicherung. Die Allianz äußerte sich dazu nicht. Doch manche Branchenkenner rechnen schon in dieser Woche mit der Bekanntgabe, spätestens jedoch in einigen Monaten.

Um sein Karriereziel zu erreichen, braucht Rieß eine gute Bilanz. Die kann er bisher nur bedingt vorweisen, wie die Ratingagentur Moody’s feststellt. Rieß muss nun liefern, denn er gilt nicht als der einzige Kandidat. Ein weiterer sitzt schon im Holding-Vorstand: Oliver Bäte – ein Seiteneinsteiger, der 15 Jahre für das Beratungsunternehmen McKinsey gearbeitet hat.

Bäte wurde 2008 direkt in den Holding-Vorstand geholt. Nach einem Intermezzo als Finanzvorstand führt er seit gut einem Jahr das  Versicherungsgeschäft in West- und Südeuropa. Dem Ex-Berater fehlt noch der „Stallgeruch“. Und seine Leistung sei schlecht zu beurteilen, finden Analysten. Bäte braucht daher noch Zeit, um glänzend dazustehen. Genauso wie Rieß.

Beiden dürfte es daher passen, wenn Allianz-Chef Diekmann in nächster Zeit seinen Vertrag um ein oder zwei Jahre verlängert. Auch dazu sagt die Allianz nichts, weil es noch nicht entschieden ist. Erst wenn der Aufsichtsrat die Personalie durchwinkt, kann sie verkündet werden. Doch da derzeit ein makelloser Kronprinz fehlt, ist dies sinnvoll, glauben Branchenkenner.

Ab dem Alter von 60 Jahren werden Vorstandsverträge bei derAllianz gewöhnlich nur noch Jahr für Jahr verlängert. Und Diekmann ist gerade 59 Jahre alt geworden. Die beiden Anwärter Bäte und Rieß sind gut zehn Jahre jünger. Das ist wichtig: Wenn die Allianz einen neuen Konzernchef kürt, dann ist dies bisher immer eine langfristige Entscheidung gewesen – für ein Dutzend Jahre oder mehr.

Diekmann ist seit 2003 der Chef. Wer im Rennen um seine Nachfolge die Nase vorn hat, ist schwer zu beurteilen. Letztlich fällt diese Entscheidung der Aufsichtsrat. Worauf die Kontrolleure achten, darüber kann man nur spekulieren. Analysten und Beobachter messen die beiden daher an öffentlich zugänglichen Daten. Und hier musste Rieß zuletzt Rückschläge verkraften.

Besonders kritisch ist die Ratingagentur Moody’s: „Das deutsche Geschäft der Allianz SE hat sich in den vergangenen fünf Jahren im historischen Vergleich unterdurchschnittlich entwickelt.“ Grund sei die „schwache Performance“ der Sparte Sachversicherungen. Und das starke Geschäft mit Lebensversicherungen sei „eines der größten Risiken für den Allianz-Konzern“. Hier belastet das hohe Niveau von Lebensversicherungen mit Garantiezins.

Das Problem: Garantierte Zinsen für Kunden kosten Geld und binden Kapital. Bei dauerhaft niedrigen Zinsen am Finanzmarkt könnten die Kapitalerträge irgendwann nicht mehr ausreichen, um zumindest die in Millionen von Verträgen garantierten Zinsen zu bedienen. Schließlich geht es hier um Zusagen, die manchmal über mehrere Jahrzehnte reichen.

Entscheidend für die Ambitionen von Rieß sind allerdings die Sachversicherungen. Im vergangenen Jahr war die Performance ziemlich schlecht. 2008 steuerte die Sparte noch 30 Prozent zum Konzerngewinn bei, in den ersten neun Monaten 2013 waren es nur 18 Prozent. Das ist viel zu wenig für die große Deutschland AG. Auch im internationalen Vergleich.

Die Ursache: Der Wettbewerb auf dem deutschen Versicherungsmarkt ist sehr intensiv. Zudem verfügt die Allianz mit 16 Prozent über einen sehr hohen Marktanteil in Deutschland. Dennoch sei ihre Macht, die Preise zu setzen, sehr begrenzt, stellen Analysten fest. In der Autoversicherung wurde die Allianz sogar von einem schlanken Versicherungsverein, der Huk-Coburg, überholt.

In anderen Teilmärkten der Sachversicherung, etwa bei Wohngebäuden, gibt es ebenfalls intensiven Wettbewerb, der zu hohen Verlusten führt. Solche Preiskämpfe sind vor allem für die stolzen und statusbewussten Allianz-Vertreter hart. Denn sie können nicht mehr allein auf ihr Standing vertrauen, sondern müssen auch preislich attraktive Produkte anbieten.

In dieser Hinsicht hat der Vertriebskenner Rieß allerdings einiges bewegt. Vor ein paar Jahren schlug dem Allianz-Vorstand in Deutschland noch der Wind ins Gesicht. Inzwischen hat es Rieß geschafft, die eigenen Verkäufer wieder hinter sich zu bringen. Darauf deuten Äußerungen von Verbands- und Interessenvertretern gegenüber Handelsblatt Online hin.

„Ich schätze die Arbeit von Markus Rieß sehr“, urteilt Markus Dumsch von der  Interessengemeinschaft der Vertretervereinigungen der Allianz e.V. Unverändert schwierig haben es allerdings kleine Allianz-Agenturen, stellt Dumsch fest. Diese Agenturen verschwinden immer häufiger vom Markt – sei es wegen neuer Gesetze aus Berlin, sei es wegen harter Vorgaben der Allianz-Führung. 

Im Vergleich zur Konkurrenz steht der Allianz-Vertrieb dennoch gut da. Hauptgrund ist: Das Image der Allianz sei gut, wie Vermittlerlobbyist Dumsch festhält. Dies ist besonders wichtig für Vertreter: „Es zeigt sich immer stärker, dass wir kein Branchenproblem haben, sondern schlechtestenfalls ein Problem mit den Vertriebswegen“, sagt Dumsch.

Ähnlich positiv urteilt Ulrich Zander, Allianz-Vertreter und zugleich Vizepräsident im Vermittlerverband BVK. Rieß sei als Fachmann anerkannt, weil er sehr konsequent sei. „Das mögen wir.“ Weniger beliebt ist das knallharte Kostenmanagement: „Viel Arbeit wird auf uns ausgelagert, aber nicht angemessen vergütet“, klagt Zander. „Wir regulieren Schäden für ‘n Appel und ‘n Ei.“

Analysten ist das Seelenleben der Vertreter dagegen weniger wichtig. Sie haben den Aktienkurs im Blick: Wachstum und Profitabilität hätten sich in den vergangenen Jahren nicht verbessert, kritisiert Peter Eliot von Berenberg. Das liege vor allem am deutschen Markt. Geld verdiene die Allianz hierzulande schon, aber für das Gewinnwachstum sorgten andere in der Gruppe, Pimco etwa.

Nur wenn Rieß nun wie gewünscht den Gewinnturbo in der Sparte Sachversicherung zündet, dürfte er gute Chancen haben, Diekmann zu beerben. Helfen könnte ihm dabei in den nächsten beiden Jahren, dass die Preise in Problemsparten wie Autoversicherung und Wohngebäudeversicherung inzwischen erhöht worden sind.

Das spült mehr Geld in die Kassen des Konzerns. „Es sollte also möglich sein, die große Lücke zwischen dem Ziel und den letzten Zahlen zu schließen“, urteilt Eliot. Allerdings muss Rieß auch Glück haben. Denn Gewinne in der Sachversicherung hängen stark vom Wetter ab. Verursachen Hagel und Orkane 2014 und 2015 weniger Schäden, dann steigen vielleicht auch die Aufstiegschancen von Rieß.

Ob er seinen Konkurrenten Bäte aus dem Feld schlagen kann, hängt allerdings auch von anderen Faktoren ab, den Beziehungen im Führungszirkel. Bäte hatte einige Jahre Zeit, um sich an die Allianzzu gewöhnen. Im Holdingvorstand, in dem Rieß noch nicht ist, hat er sich etabliert. In der Öffentlichkeit ist der Manager allerdings bisher nicht besonders aufgefallen.

Wie die Erfolge von Bäte in seiner neuen Aufgabe sind, können selbst gut informierte Analysten nicht beurteilen. Denn der Ex-Berater führt das Versicherungsgeschäft in West- und Südeuropa noch nicht lange. Für ein Urteil ist es noch zu früh. Andreas Schäfer, Analyst beim Bankhaus Lampe meint: Das wird man erst in ein paar Jahren abschätzen können.

Bäte konnte sich bisher darauf konzentrieren, intern die nötigen Voraussetzungen für den Sprung an die Spitze zu schaffen. Dazu gehört auch ein gutes Verhältnis zu den Entscheidungsträgern, also insbesondere den Aufsichtsräten, die über den künftigen Vorstandsvorsitzenden der Allianz entscheiden.

Druck, schnell den Wechsel an der Konzernspitze zu vollziehen, hat die Allianz offenbar nicht. Insgesamt betrachtet steht der Konzern gut da. Der aktuelle Vorstandsvorsitzende Michael Diekmann kann zwar keine grandiose Bilanz vorweisen, aber immerhin eine solide, urteilt Schäfer. Diekmann habe den Konzern gut durch die Finanzkrise gesteuert und keine großen Fehler gemacht.

Und im entscheidenden Moment hatte er auch Glück, als ihm der Verkauf der Dresdner Bank an die Commerzbank gelang. Seit die Dresdner Bank den Versicherer nicht mehr belastet, sprudeln auch die Erträge wieder ganz ordentlich. Was die Bilanz, die am Donnerstag vorgelegt wird, einmal mehr belegen dürfte.